Die Heimat

Isi Bell
3 min readNov 11, 2019

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Als ich dich sah, saßt du auf einer braunen Parkbank. Es war November. Die Temperaturen waren eisig und der fegende Wind ließ dein Haar zerzaust aussehen. Eine Träne kullerte über deine rote Wange. Kurz zweifelte ich, ob ich in dein Schicksal eingreifen sollte, doch deine Verzweiflung machte es mir unmöglich, dich dir selbst zu überlassen.

Dein Leiden wird dich nicht weiterbringen.’’, sagte ich nüchtern.

Was … wer sind Sie?’’, fragtest du mich verwirrt. Sie wissen doch gar nichts über mich.’’

Es ist nicht schwer zu erkennen, dass du dich verloren fühlst, in dieser Welt.’’

Kaum hatte ich den Satz beendet, fingst du auch schon wieder an zu schluchzen.

Ich weiß nicht wo ich hingehöre.’’, sagtest du, während eine weitere Träne deinem Auge entrann.

Ich tue Dinge, von denen ich denke, dass sie richtig seien. Um zur Gesellschaft zu gehören. Ich tue Dinge, weil man diese nun mal tut, als verantwortungsbewusster Mensch. Tag ein, Tag aus. Und jeden Tag habe ich das Gefühl, mich ein bisschen mehr von mir selbst zu entfernen.’’

Es gibt einen Ort, der sich Heimat nennt.’’, antwortete ich dir.

Heimat?’’

Ja, Heimat. Es ist ein Ort, an dem es kein Leid gibt. Alles was du dort tust, geschieht mit Leichtigkeit. Alles was du dort tust, hat einen so enormen Mehrwert für die Menschheit, dass dich dein Tun geradezu beflügelt. Nie wieder wirst du dich schwer fühlen, nie wieder wirst du dich selbst verlieren. Denn alles was du dort tust, entspringt dem Sinn deiner Existenz.’’

Mit hoffnungsvollen Augen sahst du mich an.

Wie komme ich zu dieser Heimat?’’

Es ist schwer.’’, murmelte ich ehrlich. Es ist sehr schwer dort hinzukommen. Es ist außerdem sehr schmerzhaft für mich zu sehen, dass so viele deiner Mitmenschen aufgeben, kurz bevor sie dort ankommen. Deshalb teile ich dieses Geheimnis nur mit einigen, ausgewählten Lebewesen. Zu oft wurde ich enttäuscht und mein Geschenk, die Heimat, nicht geschätzt.’’

Dann wurdest du neugierig und setztest dich etwas näher an mich heran. Deine Aufmerksamkeit gab mir Hoffnung und ich fuhr fort.

Diese Heimat, mein Kind, sie ist voller Liebe und Geborgenheit.’’

Wie weit ist sie denn weg, diese Heimat?’’

Sie ist überhaupt nicht weit weg.’’, antwortete ich lachend. Einige Menschen brauchen jedoch viele Jahre bis sie dort ankommen, einige nur einen kurzen Moment und wiederrum andere, werden nie ankommen.’’

Wie traurig!’’, sagtest du mitfühlend. Hast du eine Wegbeschreibung?’’

Wieder brachtest du mich zum Schmunzeln. Wie wenig ihr doch wisst, obwohl ihr alles Wissen schon in euch tragt!

Es gibt keine Wegbeschreibung.’’

Wie kann ich denn dann dorthin kommen?’’, fragtest du fast panisch.

Ich kann dir etwas sagen, dass dir dabei helfen könnten, dich wieder an deine Heimat zu erinnern.’’

Zu erinnern?’’, irritiert blicktest du zu mir. Ich glaube nicht jemals in dieser von dir als so wundervoll beschriebenen Heimat gewesen zu sein.’’

Du warst schon einmal dort. Aber du hast es vergessen. Du hast es vergessen, weil du so abgelenkt bist. Du bist abgelenkt von deinem Streben nach materiellen Dingen, nach Anerkennung, nach Ruhm. Du bist abgelenkt von deinen Gewohnheiten, deinen Reaktionsmustern. Du denkst all deine Begierden und all deine Automatismen seien du selbst. Und deswegen verlierst du dich, mein Kind. Deshalb fühlst du dich fremd, in deiner eigenen Welt.’’

Und wie kann ich es schaffen, mich wieder an diese Heimat zu erinnern?’’

Du musst auf eine Reise gehen.’’

Auf eine Reise?’’

Auf eine Reise zu dir selbst, um das zu werden, was du schon bist und das zu verlernen, was du denkst zu sein.’’

Das klingt paradox.’’

Was du denkst zu sein, ist ein rein psychologischer Käfig, den du dir selbst erbaut hast. Lässt du dessen Gitter fallen, so erfährst du dich in allem, was dich umgibt. Bist du in diesem Zustand, so wird dein Körper erfüllt sein mit unendlicher Liebe und Energie. Der Weg in deine Heimat wird sich dann von ganz alleine auftun.’’

Einige Minuten saßest du gedankenversunken neben mir, bis du mich schließlich lächelnd ansahst.

Danke! Und wer bist du?’’

Ich bin du.’’, antwortete ich dir.

Du bist ich?’’, fragtest du mich ganz aus dem Häuschen. Aber dann bin ich ja auch du?’’

Ganz genau, nur auf einer anderen Bewusstseinsebene, denn ich habe nachhause gefunden. Ich bin hier, um das kollektive Bewusstsein zu heben. Nun liegt es an dir, mir bei dieser Aufgabe zu helfen. Finde Heim. Und hast du Heim gefunden, so trage die Schönheit dieser Weisheit nach außen, in die weite Welt. Das ist von großer Bedeutung. Denn deine Heimat, ist meine Heimat und nur wenn jeder von uns nachhause findet, so werden wir das wahre Glück der Heimat erfahren können.’’

Dies waren meine letzten Worte, bevor ich dich an einem kalten Novembertag auf der Parkbank zurückließ.

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Isi Bell
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Written by Isi Bell

Trying to put on paper what my soul offers. (GERMAN) HABITS/EGO/LIFE/SPIRITUALITY/LOVE/SELF

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